Wie der Zahn einer riesenhaften Hexe ragt der Schijenzahn aus dem hellen Fels hervor - drohend, ein bisschen lose, so als wolle er hinunterspringen auf den Wanderweg, der von St. Antönien-Rüti an Bachrunsen, Lawinenfuhren, Maiensäss und weidenden Kühen vorbei durch das Partnunertal hinauf zum Weiler Partnunstafel führt. Der kleine, nur im Sommer bewohnte Ort klebt auf 1769 Metern über Meer am Hang unter der Schijenfluh, einem mächtigen Berg an der Grenze zu Österreich. Ein paar alte Holzhäuschen, eine schmale Strasse, einige Wanderwege, ein Brunnen und zwei Berggasthöfe - dies ist die kleine Welt, die heute abgeschieden und still erscheint, im vergangenen Jahrhundert aber Schauplatz von regem Schmuggel und von grenzüberschreitenden Liebschaften und Scherereien war.
Schiessereien und Liebeleien
Entlang schmaler Gräte, über Karrenfelder und hohe Berggipfel verläuft hinter Partnun die Grenze zwischen der Schweiz und Österreich. Zwischen 1900 und 1950 überquerten viele Schmuggler die verschiedenen Pässe, die hier die beiden Talschaften Prättigau und Montafon miteinander verbinden. Meist waren es einfache Hirten, die sich mit dem Transport von Tabak, Butter, Fleisch und grünen Kaffeebohnen einen Zustupf verdienten. Auch Saccharin oder Kinderschnuller steckten in ihren Leinensäcken, die sie im Sommer, bei Nacht und Nebel, auf dem Rücken über die steilen Wege trugen. Für die Zöllner, die mit List und Waffengewalt für Recht und Ordnung kämpften, waren sie in der Dunkelheit nicht gut zu erkennen. Und selbst nach einer wilden Schiesserei in der Tilisunahütte, deren Keller als Schmuggeldepot gedient hatte, vermochten sie dem regen illegalen Handel nicht Einhalt zu bieten, denn fortan versteckten die Schmuggler ihr Gut in einer der vielen Höhlen im kalkigen Fels. Erst das allgemeine Aufkommen des Automobils brachte den Schmuggel in Partnun zum Erliegen.
Nicht nur Waren fanden den Weg vom einen Land ins andere, auch die Liebe überwand die karstigen Berge. Volksmusiker aus dem Montafon spielten in den fünfziger Jahren im Berghaus Sulzfluh in Partnun oft zum Tanz auf und bescherten, so jedenfalls erzählen es ältere Einheimische, manch mitgereistem Österreicher eine Liebschaft mit einer Prättigauerin. Die Bergbauern von dies- und jenseits der Bergpässe forderten die in einem abgetrennten Bereich sitzenden jungen Frauen zum Tanz auf. Die Prättigauerinnen sollen dabei immer wieder die Österreicher vorgezogen haben, weil sie in ihren feinen Tanzschuhen, die sie im Rucksack über den Berg getragen hatten, besser tanzen konnten als die Schweizer in ihren klobigen Bergschuhen. So kam es zu grenzüberschreitenden Liebeleien und zu manch einer Schlägerei zwischen einem Erhörten aus dem Ausland und seinem einheimischen Neider.
Das Berggasthaus Sulzfluh, das erhaben über dem Partnunertal thront und in die Ferne zu den Flanken des Prättigaus blickt, begleitet seit seinem Baujahr 1875 das amouröse Grenztreiben in Partnun. Heute öffnet es im Sommer seine alten Holzzimmer jenen Gästen, die seine Altersschönheit mögen: Die Betten sind aus Arvenholz, auf der Kommode stehen Krug und Waschschüssel, zum Lesen leuchten Kerzen statt Glühbirnen, und nachts knarren die alten Dielen. In der Gaststube, die in kühlen Nächten von einem Holzofen gewärmt wird, brennen Petroleumlampen, und zur währschaften Prättigauer Kost mit Härdöpfelribel, Chäsgetschäder und Prättigauer Knödli gibt es eine grosse Portion heimeliger Bergromantik.
Grenzwanderung
Partnun ist Ausgangspunkt für verschiedene Rundwanderungen. Eine davon ist der naturkundliche Alpenrundweg, der erfahrene und trittsichere Wandernde in fünfeinhalb Wanderstunden nicht nur an manchem Schmugglerloch und Zollhäuschen vorbei nach Österreich und wieder zurück in die Schweiz führt, sondern ihnen auch eine besonders grosse Vielfalt an Berglandschaften und darin heimischer Fauna erschliesst. Alpensalamander leben an den Bachläufen, Birkhühner, Steinböcke, Rothirsche, Gemsen und Alpenmurmeltiere verstecken sich in den karstigen Schrunden, Schneehühner brüten auf 2000 Metern über Meer, und in der Luft kreisen Turmfalken und Steinadler.
Der Rundwanderweg führt vom Berghaus Sulzfluh am Berghaus Alpenrösli vorbei nordwärts zum zauberhaften Partnunsee, auf dem ein kleines Boot zu einer Ausfahrt einlädt - und in dessen Wasser sich die rundherum aufragenden Berge mit ihren Türmen, Zähnen, Spitzen und Wänden aus hellem Rätikonkalk spiegeln. Weit oben in der steilen Felswand der Sulzfluh sind mehrere dunkle Höhleneingänge zu einem weitverzweigten Höhlensystem zu erkennen, in dem bis vor rund 10 000 Jahren Höhlenbären lebten. Vom Partnunsee geht es nordwärts weiter zu den Gruoben, einem hellgrauen, körnig-zerfurchten Kessel, und von dort über den Gruobenpass nach Österreich, wo sich der Blick über eine weite, weich gewölbte Hochebene in die Österreicher Alpen öffnet. Der Weg führt südwärts an kleinen Seen vorbei über eine breite Karstlandschaft mit auffälligen Karrenfeldern zum Plaseggenpass auf 2354 Metern über Meer und über die Grenze wieder zurück in die Schweiz. Über ein von kleinen Bächlein und Furten durchzogenes Plateau geht es nun hinunter zur Engi, einer plötzlichen Verengung in der grossflächigen Felslandschaft. Ein steiler, kurzer Abstieg führt an der Weberlisch Höli vorbei und am sprudelnden Tällibach entlang zurück nach Partnun.
Manche Wanderer gehen geradewegs weiter durch das Partnunertal hinunter nach St. Antönien und besuchen dort eines der schönen Gasthäuser, das Ortsmuseum oder die Kirche. Andere ruhen sich auf der Terrasse eines der beiden Berggasthäuser aus, lassen sich alte Geschichten erzählen und blicken noch einmal hoch zur mächtigen Schijenfluh, aus deren silbern glänzendem Kalk der Schijenzahn ragt, wie ein wackliger Zahn aus einem lachenden Mund.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen