27. September 2007

Alpentreppe und Menschenfeind

Irgendwo hat ein Menschenfreund oder vielleicht ein kleiner Sadist die Zahl 1500 in den Beton geritzt. Wenn das jetzt die Seehöhe wäre, dann hättest du bereits 500 der insgesamt 700 Höhenmeter hinter dir. Es ist aber nicht die Seehöhe, sondern die Zahl der zurückgelegten Stufen, und das bedeutet, dass noch 2500 zu bewältigen sind.

4000 Stufen - so ganz genau hat sie bisher niemand gezählt - ist diese höchste, gerade Treppe Europas lang, mit einer Steigung bis zu 86 Prozent. Das ist dann so steil, dass man besser nicht zu oft nach oben blickt, nicht nur wegen der Gefahr eines steifen Genicks, sondern mehr noch wegen des leichten Schwindelgefühls, das sich da einstellt.

Letzteres gilt auch für den Blick nach unten, wo tief im Tal der Ort Partenen liegt, und so schaut man am besten schräg nach vorne auf die nächsten Stufen. Die können aus gemauertem Stein, Beton oder Rasterprofil-Eisen bestehen, sie sind zwischen 20 und 40 Zentimeter hoch und werden meistens, aber eben nicht immer, von Stahlseilen oder Eisengeländern begleitet, nach denen man dankbar greift, erstens wegen des Gefühls der Sicherheit und zweitens, um die Beinarbeit durch Armzug zu unterstützen.

Zwar gibt es, wie die Touristiker im Vorarlberger Bergtal Montafon betonen, entlang der Treppe immer wieder "Bänkle", die zu einem "Hock" einladen, aber das ist der Sinn der Sache nicht. Erstens ist man schon aus nervlichen Gründen froh, das Ganze möglichst in einem Zug hinter sich zu bringen, und zweitens geht's ja um Leistung. Neben der ersten Stufe steht eine Stechuhr, und eine solche wartet auch neben der letzten.

Wie so vieles, was im Montafon in den vergangenen 80 Jahren gebaut wurde, verdankt auch die 4000-Stufen-Treppe (zum Vergleich: Auf den Donauturm führen gerade einmal 776 Stufen) ihre Existenz der Kraft des Wassers. Seit 1924 schufen die Vorarlberger Illwerke, benannt nach dem in der Silvretta entspringenden und das Montafon entwässernden Fluss Ill, ein imposantes Netz von Speicherkraftwerken, die bis weit nach Deutschland Spitzenstrom liefern.

Die Bauten der Illwerke - riesige Staudämme, Erschließungswege, wie die 1954 fertig gestellte "Silvretta-Hochalpenstraße", Schrägaufzüge, Tunnels, Verbindungsstollen und Rohrleitungen vom Tiroler Paznauntal ins Montafon hinüber - bedeuteten einen gewaltigen Eingriff in die hochalpine Landschaft, zeugen von kühnen Ingenieurleistungen, aber auch von politischer Gewalt: In der NS-Zeit schufteten auf Baustellen der Illwerke Zwangsarbeiter in großer Zahl.

In ihrer Monumentalität haben die Bauten eine unbestreitbare ästhetische Qualität. Dieser zollte der Vorarlberger Konzeptkünstler Gottfried Bechtold Tribut, als er vor zwei Jahren die Betonmauer des Silvrettastausees mit seiner Signatur in den Rang eines Kunstwerks erhob.

Die lange Treppe wurde 1952 als Versorgungs- und Wartungsstrecke eines Schrägaufzugs von Partenen (1030 Meter) zur Bergstation Trominier (1730 Meter) gebaut. Der Aufzug begleitete die Druckrohre, die das Wasser des Vermuntstausees auf die Turbinen im Tal stürzen ließen. Als vor zehn Jahren die Druckrohrleitung von Trominier nach Partenen unter die Erde verlegt wurde, war auch der begleitende Schrägaufzug überflüssig geworden. Er wurde durch eine Seilbahn ersetzt.

Die durch gewaltige Lawinenverbauungen gesicherte Treppe wollte man, zunächst nur als kurioses Relikt aus der heroischen Zeit der technischen Entwicklung, erhalten. Bald aber entdeckten, zunächst lokale, später auch internationale Sportler dieses "größte Fitnessgerät der Welt" (so der vollmundige Slogan des Tourismus-Verbands Gaschurn-Partenen) für ein effektives Kraft-, Ausdauer- und Koordinationstraining. In den vergangenen Jahren trainierten hier u. a. die österreichische Frauenmannschaft im alpinen Skilauf, die Fußballvereine VFB Stuttgart, Lazio Rom und Hertha BSC und der Formel 1-Autorennfahrer Nelson Piquet. Sie alle laufen ausschließlich hinauf (und fahren mit der Seilbahn wieder herunter), denn bergab wäre der Run muskel- und sehnenschädigend, und außerdem ist er wegen der Absturzgefahr gesperrt.

Seit zwei Jahren zählt der 700-Höhenmeter-Treppenlauf übrigens, zusammen mit einem 10-Kilometer-Mountainbike-Hillclimb (Höhendifferenz 1250 Meter) in St. Gallenkirch, zu einem "Montafon-Silvretta-Man-and Woman-Cup", der jährlich Ende Juli / Anfang August stattfindet. Zwölf Uhr und 14 Minuten hat die Stechuhr beim Start ausgedruckt. Beim Ausstieg - nach ein paar Fotostopps und einem Kurzbesuch in dem an der Strecke gelegenen Kraftwerksmuseum - zeigt sie 13 Uhr und 53 Minuten. Das ergibt die schöne Zeit von 99 Minuten. Leider verzählt sich die freundliche Angestellte im Tourismusbüro Partenen, die für vier Euro Urkunde und Abzeichen aushändigt. 109 Minuten stehen auf dem Papier. Aber was soll's. Der Rekord für die 4000 Steps steht bei 22 Minuten und 49 Sekunden. (Der Standard/rondo/8/10/2004)

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